Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Hesky,
sehr geehrte Frau Erste Bürgermeisterin Dürr,
sehr geehrter Herr Baubürgermeister Schienmann,
werte Kolleginnen und Kollegen des Gemeinderats,
liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
Erinnern Sie sich noch an 1973? Die Ölkrise war in aller Munde, der erste Autofreie Sonntag wurde eingeführt und Bilder von leeren Autobahnen waren in der Tagesschau zu sehen. Damals war ich 6 Jahre alt.
Schon 1972 erschien mit „Grenzen des Wachstums“ der Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Die klugen Köpfe Anfang der 70er Jahre bewegte unter anderem die Frage, wie wir anlässlich begrenzter Ressourcen weiter wirtschaften können.
Seit fast 50 Jahren diskutieren wir also darüber, wie wir unsere Erde ausbeuten, Rohstoffe fördern, verbrauchen und die Abfallprodukte entsorgen und welche Auswirkungen wir dabei in Kauf nehmen und darüber, ob und wann das enden wird.
Dabei hat sich der Diskurs durchaus verändert. Heute geht es nicht mehr allein um die Ölreserven und die Umweltverschmutzung.
Ganz aktuell hat die Ministerpräsidentin von Neuseeland, Jacinda Ardern, für ihr Land sogenannte Well-Being-Faktoren definiert. Sie hat festgestellt, dass es einem Land nicht allein gut geht, wenn die Wirtschaft floriert, sondern dass es auch auf eine gerechte Verteilung des Geldes, auf Zugang zu medizinischer Versorgung und zu bezahlbarem Wohnraum, auf Schulbildung und auf Einbindung von Minderheiten (bzw. im Fall Neuseelands auf Einbindung der indigenen Bevölkerung) und ebenso auf die Wahrung von Arbeitnehmendenrechten ankommt. Auch der Kampf gegen die Klimakatastrophe und der Schutz knapper Bodenschätze stehen auf der politischen Agenda Neuseelands. Der gesamte neuseeländische Haushalt ist inzwischen zur Einhaltung der Well-Being-Faktoren verpflichtet.
Denn auch unter Wirtschaftswissenschaftler*innen hat sich inzwischen herumgesprochen – das Bruttosozialprodukt kann nicht allein das Maß aller Dinge sein. Denn jeder Autounfall, jede Katastrophe (wie zum Beispiel dieses Jahr im Ahrtal) und sogar Kriege führen zwar zu einer Steigerung des Bruttosozialprodukts – aber sicher nicht zur Steigerung des menschlichen Wohlbefindens.
Vielmehr gilt es, abseits des Bruttosozialprodukts andere Faktoren zu definieren, die für ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander zugrunde gelegt werden können.
Am Flächenverbrauch wird diese Diskussion besonders deutlich: Die Fläche einer Gemeinde ist endlich. Der Boden ist definitiv nicht vermehrbar. Jeder Quadratmeter, den wir heute zubauen und damit zusätzlich versiegeln, heißt Vernichtung. Vernichtung von Naherholungsgebieten, Vernichtung von landwirtschaftlicher Nutzfläche, von Versickerungsflächen und Wasserspeichern nach Regenfällen. Dazu kommen die CO2-Effekte durch Bauwirtschaft, Straßen und Infrastruktur. Mit allen bekannten Auswirkungen auf das Weltklima. Nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis steht im Koalitionsvertrag des Landes Baden-Württemberg eine Nettonull beim Flächenverbrauch ab 2035 – dem hat sich auch die CDU verpflichtet. Das heißt natürlich nicht, dass wir bis dahin alle freien Flächen noch munter zupflastern dürfen. Vielmehr sind kreative Lösungen gefragt. Auch ein Industriebau kann durchaus mehrstöckig gebaut werden.
Wenn wir uns darauf einigen können: Ziel unseres Handelns sollte die Steigerung des Wohlbefindens sein. Dann erfährt der Begriff Wachstum eine ganz neue Bedeutung – kein Zuwachs an Autos und Umgehungsstraßen, sondern ein Zuwachs an Aufenthaltsqualität und Ruhe. Kein Zuwachs an Neubaugebieten, sondern ein Zuwachs an Naherholungsgebieten und Biotopvernetzung, an Fläche für den Erhalt des Artenreichtums und für Frischluftschneisen. Kein Zuwachs an Abfall, Konsum und Elektroschrott sondern ein Zuwachs an Solarmodulen auf Dächern und damit an Erneuerbaren Energien.
Es ist eben gerade keine Verzichtsdebatte, die wir angesichts des Klimawandels führen müssen, sondern eine Bilanzierung der Lebensqualität. Wir brauchen ein Stadtklima, das die Wärmeinseln kompensieren kann, die Versiegelung und nachlässige Architektenentwürfe nach sich ziehen. Eine grüne Stadt, die CO2 bindet, statt es zu erzeugen. Eine Stadt mit Photovoltaik und Solarthermie auf jedem nur denkbaren Dach, eine Stadt der kurzen Wege, eine Stadt, die für Fahrrad- und Fußverkehr gleich viel Geld und Planungsintelligenz investiert wie für den Autoverkehr. Eine Stadt, in der kostbare ebenerdige Flächen nicht zum Abstellen von Fahr-, oder vielmehr STEH-zeugen, sondern für aktive Nutzung durch Bürgerinnen und Bürger gedacht sind. Wie kommen wir eigentlich dazu, dass jeder Autobesitzer seinen PKW kostenlos oder gegen allzu geringe Gebühr im öffentlichen Raum abstellen darf? Ich darf ja auch nicht einfach meinen Kühlschrank oder meinen Wohnzimmertisch auf die Straße stellen.
Im letzten Jahr erwirtschaftete die Parkierungsgesellschaft ein Defizit von 686.000 Euro. Geld, das von der Allgemeinheit dafür aufgebracht wird, dass Autos geparkt werden können. Hier subventionieren wir mit zweifelhaftem Erfolg. Es gibt Studien, die nachweisen, dass Autofahrerinnen übers Jahr gesehen weniger Geld in die Stadt tragen als Kundinnen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad einkaufen gehen. Sie gelten als treue Kund*innen, die zwar im Einzelfall für weniger Geld einkaufen, dafür häufiger und in Summe mehr in den lokalen Läden ausgeben. Genauso schnell wie man mit dem Auto in die Innenstadt gefahren ist, ist man nämlich auch in den Einkaufszentren auf der grünen Wiese. Mit einer Stärkung des Innenstadthandels hat das dann gar nichts mehr zu tun.
686.000 Euro – die gleiche Summe (vermutlich würde schon ein Bruchteil davon ausreichen) könnte man zum Beispiel auch für den Aufbau eines einheitlichen Lieferdienstes im Stadtgebiet ausgeben. Das würde die Kaufkraft in der Innenstadt erhöhen und wir könnten dem Onlinehandel, dessen großes Plus die Haustürlieferung ist, ernsthaft etwas entgegensetzen.
Wir haben dazu einen Haushaltsantrag formuliert: Die Parkierungsgesellschaft soll keine Verluste mehr erwirtschaften.
Wir schlagen darüber hinaus in einem weiteren Antrag vor, den Wasenparkplatz mit Photovoltaik zu überdachen.
Die Landesregierung hat inzwischen den Weg freigemacht für eine Erhöhung der Bewohnerparkausweise, gut, dass wir hier gleich gehandelt haben und die Kosten fürs Parken im öffentlichen Raum erhöhen wollen. Wir alle haben erlebt, dass Bewohner*innen eines Neubaugebietes sich über zu wenig Parkplätze beklagen.
Ich halte dagegen: es sind nicht zu wenig Parkplätze, es sind zu viele Autos. Oder das Parken ist zu billig. An diesem Punkt würde ich tatsächlich auf die Gesetze des Marktes bauen: Angebot und Nachfrage regeln den Preis!
Man könnte sogar darüber nachdenken, ob man den Preis an Größe und Gewicht des Autos anpasst.
Das alles erfordert natürlich parallel den Ausbau von Mobilität jenseits des Autos. Waiblingen liegt verkehrsgünstig am Knotenpunkt zweier S-Bahn-Linien und es werden demnächst drei Radschnellwege durch Waiblingen führen. Von uns als Kreisstadt kann man da durchaus eine Vorreiterrolle und kreative Beiträge zur Verkehrswende erwarten.
Was möglich ist, wenn man mutig vorangeht, konnte ich kürzlich in Paris erleben. Die Stadt, die Tag und Nacht vom Autoverkehr erfüllt war, hat es tatsächlich geschafft, sich zu einer Fahrradstadt zu entwickeln. Auf den großen Boulevards gibt es abgeteilte Fahrrad- und Busspuren, zahlreiche Einbahnstraßen wurden geschaffen und sind selbstverständlich alle in Gegenrichtung für Fahrradfahrer frei. 1200 Fahrradverleihstationen über das ganze Stadtzentrum verteilt sorgen mit robusten Alltagsrädern zu attraktiven Preisen für ein Mobilitätsangebot jenseits von Auto und Metro. Wer je die Champs-Elysées bis zum Arc de Triomphe mit dem Fahrrad entlang geradelt ist, wird meine Begeisterung verstehen!
Die Seineufer wurden zunächst projektweise im Sommer zur Strandzone aufgepeppt – heute sind sie dauerhaft autofrei, dienen zur Naherholung, als Fahrradstraße, Flaniermeile, Joggingstrecke, Boulderwand und Kinderspielplatz direkt am Wasser.
In den Quartieren wird die sogenannte 15-Minuten-Stadt gefördert. Biosupermärkte, Schulen, Kindergärten, Cafés – alles in 15 Minuten erreichbar. Das alles ist machbar, wenn man mutig voran geht und die üblichen Denkmuster verlässt.
Zurück nach Waiblingen: Mit der Fronackerstraße haben wir einen Anfang gemacht. Die Straße hat sich sicht- und hörbar beruhigt, die rückgebauten Parkplätze vermisst kaum jemand. Der Radverkehr ist wesentlich sicherer geworden. Wenn jetzt noch das Einhalten der Regelungen, z.B. das Freihalten der Lieferzone, regelmäßig kontrolliert wird, kann sich zeigen, was eine Bürgerbeteiligung zu ändern vermag. Ob uns eine ähnliche Entwicklung auf der Schmidener Straße gelingt? Wir hoffen es.
Wir sehen allerdings auch, dass wir die Bürgerbeteiligung weiter entwickeln müssen. Gut, dass dafür jetzt personelle Kapazitäten geschaffen werden sollen. In anderen Städten werden die Beteiligungsprozesse sehr transparent dargestellt. Welche Stufen gibt es, wo stehen wir, wie kann ich mich beteiligen, wie wird mit dem Ergebnis umgegangen. Und vor allem gibt es in den Städten, bei denen ich mich schlau gemacht habe, immer eine zweite Beteiligungsrunde, in der die Ergebnisse der ersten Runde gemeinsam diskutiert werden. Ein Vorgehen, dass ich hier im Gremium auch schon mehrmals vorgeschlagen habe. In der Bürgerbeteiligung zum Schmidener Feld ist das jetzt zwar angedacht, allerdings mit der zweifelhaften Idee, eine Runde einzuberufen, in der Befürworter und Kritiker eines neuen Baugebiets paritätisch zu Wort kommen. Das spiegelt nicht das Verhältnis der Beiträge während der ersten Beteiligungsphase wider.
Wir sollten uns fürs nächste Jahr unbedingt vornehmen, die Beteiligungsrichtlinien weiterzuentwickeln. Es liegt ein großes Potential darin.
A propos Potential: Das Avia-Areal bereitet uns noch große Sorgen. Ein Ärztehaus an dieser Stelle bringt wieder deutlich mehr Verkehr mit sich. Sollten wir auf diesem Waiblinger Filetstück nicht besser Wohnbau in verträglicher Größe planen? Wir brauchen dringend kleine Wohnungen zu bezahlbaren Preisen. Zudem seniorengerecht, weil zentrumsnah. Eine Arztpraxis statt eines Ladengeschäfts im Erdgeschoss ist vorstellbar.
Noch gehört ein großer Teil des Grundstücks uns. Wir haben es in der Hand. Ein Ärztehaus könnte auch an anderer Stelle entstehen, zum Beispiel auf dem jetzigen Stauferparkplatz oder in der Blumenstraße. An beiden Orten würde es zu weniger Konflikten führen.
Meine Damen und Herren, die Zeit ist knapp. Nicht nur die Zeit einer Haushaltsrede, nein, vor allem die Zeit, die uns angesichts der Klimakrise zum Handeln bleibt.
Alles, was wir uns jetzt vornehmen, um den Kurs noch zu ändern, wird viel Geld und Anstrengungen kosten.
Jetzt nicht zu handeln wird jedoch unbezahlbare Folgen mit sich bringen.
Zurück zur Ausgangsfrage: Wollen und können wir immer weiter wachsen? In welche Richtung wollen wir uns in Waiblingen in Sachen Bevölkerungswachstum, Wohnungsbau und Ausweisung weiterer Gewerbeflächen entwickeln?
Damit werden wir uns spätestens bei der Erarbeitung des nächsten Stadtentwicklungsplans kritisch auseinandersetzen müssen. Alle zusammen und mit der gebotenen gedanklichen Freiheit angesichts der globalen Klimakrise und unseres einstimmigen Bekenntnisses zu einem klimaneutralen Waiblingen bis 2035.
Aber ja, wir brauchen Wachstum. Wachstum der Kreativität, der unkonventionellen Ideen, Wachstum des Handlungswillens, des Mutes und der intelligenten Lösungen für die Probleme unserer Zeit.
Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung. Was Sie im letzten Jahr zu leisten hatten, geht weit über das übliche Tagesgeschäft hinaus. Und auch das ist ja anspruchsvoll genug. Vielen Dank also für die gute Zusammenarbeit mit uns im Gemeinderat und vielen Dank für alles, was Sie zum Wohle der Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner tun.
Vielen Dank auch für den anregenden und konstruktiven Meinungsaustausch im Gemeinderat und den respektvollen Umgang miteinander.